04.01.23 – Marcus Diekmann von „Händler helfen Händlern“:
Kommunen sollten sich völlig neu erfinden
Viele deutsche Klein- und Mittelstädte haben in ihrer heutigen Struktur keine Chance mehr. Das sagt Marcus Diekmann, Gründer der Initiative „Händler helfen Händlern“. Er sieht aber auch Chancen.
Marcus Diekmann, Digital-Unternehmer, Start-up-Investor und Gründer der Initiative „Händler helfen Händlern“, gründet seine Einschätzung auf folgende Zahlen und Fakten: Die Konsumlaune der Deutschen ist so schlecht wie schon seit über 30 Jahren nicht mehr. Der Umsatz im deutschen Handel wächst zwar weiterhin um 7,5 % in 2022, der Großteil entfällt jedoch auf höhere Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren. Zugleich ist der Online-Handel in Deutschland laut Statista um 19,1 % auf 87 Mrd. Euro gestiegen (2021). Besonders fatal: Gerade, was früher klassisch in der Innenstadt gekauft wurde, wie Mode, Schmuck und Accessoires, Freizeit- und Hobbyartikel sowie Elektronik hat jetzt die höchsten Online-Anteile. Anfang des Jahres 2022 prognostizierte der Handelsverband Deutschland (HDE) drei Mal so viel Geschäftsaufgaben im Einzelhandel wie durchschnittlich in den Jahren vor der Pandemie. Aktuell rechnen Experten in absehbarer Zeit mit weiteren 50.000 Ladenschließungen.
Handelsexperte Marcus Diekmann zieht die logische Schlussfolgerung: „50 Prozent aller kleinen und mittleren Handelszentren sind zukünftig überflüssig. Und das ist gut so, wenn wir die Situation als Chance zu einer echten Veränderung begreifen.“ Abgesehen von der Nahversorgung braucht ein lebenswertes und lebendiges Zentrum nicht zwangsläufig einen klassischen Handel, so Diekmanns Einschätzung. Die Kommunen können sich stattdessen auf die eigenen Stärken besinnen: Nähe, Zusammenhalt, Natur, günstigere Grundstücke und Mietpreise und den liebenswerten Charme der Klein- und Mittelorte.
Mehr Leben im Zentrum
Diekmanns Faustformel lautet: Kommt Leben zurück ins Zentrum, kommen im nächsten Schritt auch wieder individuelle und großartige Handelskonzepte zurück. Er fordert dafür die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen: „Warum ist es immer noch nicht zulässig, in Handelsimmobilien zu leben? Wäre das möglich, könnte man beispielsweise Ladenlokale in Wohnraum oder Büros umfunktionieren.“ In brachliegenden Immobilien können dann Co-working Flächen, Gastronomie, Sport, Bibliotheken, Jugendzentren oder Kunst- und Kulturstätten entstehen. Zeitgleich Spielplätze in das Zentrum integriert und mehr Veranstaltungen und größere Märkte in der Stadt angeboten werden.
Struktureller Wandlungsprozess
Doch es braucht nach Ansicht Diekmanns nicht nur gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, sondern zuallererst ein radikales Umdenken und vor allem eine überregionale Abstimmung. „Diejenigen Kommunen, die strukturell die Bedingungen erfüllen, weiterhin als Einkaufszentren zu bestehen, bauen ihren Handel innovativ aus und werden dabei von ihren Nachbar-Kommunen unterstützt, statt sich auch noch gegenseitig die verbleibenden Umsätze zu kannibalisieren. Die anderen Kommunen begreifen das als Chance, sich völlig neu zu erfinden. Am Ende dieses Wandlungsprozesses sollten Klein- und Mittelzentren stehen, in denen sich die Menschen wieder gerne zum Wohnen, Arbeiten, für die Gemeinschaft, für Aktivitäten und zum gegenseitigen Austausch aufhalten.“ Dafür müssten Kommunen, Kulturschaffende, Immobilieneigentümer und Bürger gemeinsam ein Konzept entwickeln, was ihr Zentrum unverwechselbar macht.